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Gelesen: Abteil Nr. 6

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30. Juli 2013 von

via amazon
Russland war ja schon das Thema der letzten Rezension und spielt auch in diesem Roman eine wichtige Rolle. Rosa Liksom, die Autorin von "Abteil Nr. 6" ist Finnin und hat lange Zeit selbst in Russland gelebt und gearbeitet. Ihre Geschichte einer namenlosen Frau und eines russischen Ex-Straftäters steckt voller Details, schrecklicher Geschichten und riecht nach kaltem Wodka und Zwiebeln. Das Zugabteil wird zur Bühne für ein Zwei-Personen-Stück.


Der Mann rieb sich die Knie, als die junge Frau das Abteil betrat. Aus den beigen Plastiklautsprechern auf dem Gang kam eine Romanze von Tschaikowksi. Zurück bleibt Omsk. Die geschlossene Stadt. Das ermüdete, von der Taiga aufgesaugte, gute, alte Omsk, von dem die Jugend nichts wissen will. Zurück bleibt das Gefängnis, in dem der verbannte junge Dostojewski knapp dem Tod entrann, zurück bleibt das leblose Denkmal von Dostojewski im Mannesalter, [..]zurück bleiben die Schlangen vor dem Schuhgeschäft, die müde Erde, die grau verschossene Reihe der Blockhüttendatschas. Das ist noch Omsk. Ein einzelnes neunzehnstöckiges Haus mitten in den Feldern, fünfhundert Kilometer Ölleitung, die gelben Flammen und der schwarze Rauch der Ölfördertürme. Wald, Lärchen, Birken, Wald, das ist nicht mehr Omsk, ein unter der Schneelast zusammengebrochenes Haus. Der Zug stampft durch das verschneite, leere Land. Alles ist in Bewegung: Schnee, Wasser, Luft, Bäume, Wolken, Wind, Städte, Dörfer, Menschen und Gedanken.
Darum geht es

Eine junge namenlose Frau besteigt die Transsibirische Eisenbahn von Moskau nach Ulan-Bator. Im Abteil Nr. 6 sieht sie sich mit einem Russen konfrontiert, der nicht nur säuft wie ein Loch, sondern obendrein Geschichten seiner unrühmlichen Taten erzählt. Alles an ihm scheint abschreckend, aber je länger ihre gemeinsame Reise dauert, desto mehr wird der grausige Mann zu ihrem Helfer. 

Das meine ich

"Abteil Nr. 6" ist ein Kammerspiel mit Unterbrechungen und der Monolog eines rüpelhaften, gewalttätigen Mannes. Und obwohl dieser Mann auf den ersten Blick so abstoßend erscheint kann man anfangen, ihn zu mögen. Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegt, kommt hinter der Maske aus Prahlerei ein Charakter hervor, den man dort nicht erwartet. Unverblümt spricht er aus, was er von seinem Staat hält, von den Frauen, vom Leben, vom Alkohol. Je betrunkener er wird, desto offener wird sein Monolog und nicht nur einmal möchte man mit der jungen Frau zusammen das Abteil verlassen. Denn alles, was geschieht, erfährt man aus dem Blickwinkel dieser jungen Frau, die niemals einen Namen bekommt. Es ist ihre subjektive Wahrnehmung, die wir teilen und auch ihre Erinnerungen, die offengelegt werden. Auf dieser zweiten Ebene wird die Geschichte der Beziehungen der jungen Frau zu ihrem Freund Mitka und seiner Mutter Irina erzählt, die überhaupt erst den Anlass zu dieser Reise bilden.

Rosa Liksom gelingt es, mit wenigen Worten sehr viel zu erzählen. Oft sind es nur Andeutungen, Details, die in Gestalt von Ellipsen daherkommen, die vom Leben in der Sowjetunion erzählen. Vor allem ihre Beschreibungen der Landschaften und der vorbeiziehenden Städte sind enorm lebendig und so trostlos sie manchmal erscheinen, lassen sie doch eine Reisesehnsucht aufkommen, der man folgen möchte.

Alles in Allem

"Abteil Nr. 6" zu lesen, ist, als ob man in diesem Zug säße und die Landschaften fliegen vorbei und alles was davon bleibt, sind kleine Eindrücke, die sich am Ende zu einem großen Bild zusammensetzen lassen. Die Erzählung ist so dicht, dass es eine Weile braucht, bis man dieses große Bild vom Leben in der Sowjetunion der 1980er Jahre zusammengesetzt hat.

Bechdel-Test

Die Geschichte bietet nicht viel Raum für die Interaktion zweier Frauen, denn der größte Teil spielt sich zwischen den zwei Reisenden im Abteil ab. Dazu kommt, dass die Hauptfigur namenlos bleibt und meistens schweigt. Wenn sie spricht, wird ihre Rede nur in wiedergegebener Form angedeutet.
Auf der Erinnerungsebene gibt es Beschreibungen von Interaktion zwischen der jungen Frau und Mitkas Mutter Irina. Zwischen den beiden Figuren entwickelt sich ein lesbisches Verhältnis. Es wird deutlich, dass die beiden auch über Dinge sprechen, die sich nicht mit Männern befassen. Insgesamt kann großzügig mit [2/3] bewertet werden. 

Rosa Liksom
"Abteil Nr. 6"
Deutsche Verlags-Anstalt, 2013
224 Seiten


1 comment

  1. Das schreit für mich fast ein wenig nach einer machbaren Theaterinszenierung! (mit Einschränkungen natürlich- wobei man die Möglichkeiten des modernen Theaters nicht unterschätzen sollte)... Psychologisches Drama lässt Grüßen...

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