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Gelesen: Am Anfang war die Nacht Musik

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14. Juli 2013 von

Ein ganzer Roman über Musik, über einen Wunderarzt und die Wiener Gesellschaft im 18. Jahrhundert - Alissa Walser hat es damit in den ZEIT Wissenschaftsroman-Kanon geschafft. "Am Anfang war die Nacht Musik" schildert in einer sehr eigenwilligen Sprache, wie der Wiener Arzt Franz Anton Messmer die blinde Pianistin Maria Theresia Paradies heilen soll und scheitert.


In ihre Locken sind Bänder und Schleifchen geflochten. Und Glöckchen. Die führen rings herum wie eine Prozession.
Mesmer umkreist sie wie einen Planeten. Was ist falsch? Der Planet muss um den Stern kreisen. Und sich drehen dabei. Der Stern will die Seiten sehen. Alle. Auch die dunkelsten. [...] Der dramatische Faltenwurf ihres himmlischen Kleides, die Risse in der pudrigen Maske, die blassblau gesprenkelten Eierschalen in ihrem Haar. Nichts als eine Inszenierung des Wahren im Wirklichen, denkt er. Und natürlich alles gut gemeint. 
Darum geht es

1777 praktiziert der bekannte Arzt Franz Anton Mesmer in Wien und versucht mit seiner neuen magnetischen Methode Patienten zu heilen. Was ihm jedoch noch fehlt ist die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen der Kaiserin selbst. Als die Eltern der blinden Pianistin Maria Theresia Paradies ihn bitten, die Tochter mithilfe seiner Wundermethode zu heilen, scheint sich die Chance zu bieten, endlich aufzusteigen. Schnell erkennt Mesmer, wie er sich seiner Patientin nähern kann und es entsteht eine höchst persönliche Beziehung zwischen diesen beiden Menschen. 

Das meine ich

Schnell wird klar, dass die Blindheit der Pianistin Maria Theresia nicht körperlich bedingt ist, sondern vielmehr Ausdruck einer psychischen Qual. Und auch wenn dem Arzt Mesmer die heute bekannten Grundlagen der Psychoanalyse und deren Begrifflichkeiten fehlen, so entwickelt sich zwischen Arzt und Patientin schnell eine Situation, die der heutigen Gesprächstherapie entspricht. Die Beziehungen der Figuren zueinander und ihre Selbstbetrachtung steht im Vordergrund; die Geschichte des Romans ist nur ein Rahmen für Reflexionen über Erziehung, den eigenen Körper und Sexualität (insbesonders weiblicher Sexualität).
Überhaupt ist die Art des Erzählens das stärkste Element des Romans. Statt des üblichen Präteritums wird als Zeitform Präsens verwendet. Wenn Maria sich Mesmer langsam öffnet kann man ihr Zögern förmlich in den Ellipsen und Ein-Wort-Sätzen greifen. Die Grenze zwischen Gespräch und Innenansichten verschwimmen und werden auch typographisch kaum markiert. Direkte Rede erscheint nicht mit Anführungszeichen, sie wird vielmehr in wiedergegebener Form direkt in den Erzähltext integriert. 

Bechdel-Test

Alle Kriterien sind erfüllt. [3/3]

Es gibt mehrere Gespräche zwischen namentlich bekannten Frauenfiguren (Maria und ihre Mutter, Maria und Katrine), in denen es nicht um Männer geht. Allerdings bleibt das Umfeld der Figuren deutlich männlich geprägt und den größten Raum nimmt die Beziehung zwischen Maria Theresia Paradies und dem Arzt Messmer ein. Diese ist jedoch nicht von sexuellen Bezügen zwischen den beiden geprägt. 

Alles in Allem

"Am Anfang war die Nacht Musik" besticht vor allem durch seine eigensinnige Sprache, die viel Raum für eigene Interpretation lässt. Allerdings kann der Roman nicht völlig überzeugen und gehört zu den schwächeren Werken in der Reihe der ZEIT-Wissenschaftsromane. 


Alissa Walser
Am Anfang war die Nacht Musik
Piper, 2010
256 Seiten
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