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Gelesen: Grenzfall

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20. August 2013 von

via Argument Verlag
Nach der Anthologie Meine Ostsee war es Zeit für ein Buch, in dem Mecklenburg-Vorpommern nicht nur schöne und idyllische Seiten hat. Dafür eignet sich doch nichts besser als ein Krimi und Merle Kröger hat mit "Grenzfall" einen geschrieben, der nicht einfach nur ein Whodunnit ist. Stattdessen wird es politisch.

Darum geht es

1992, im Morgengrauen eines Sommertages, kommt es in der Nähe der kleinen Hansestadt Kollwitz in Vorpommern zu einer Kette von Ereignissen, die mit dem Tod zweier Menschen endet. Nur wenige Monate vor dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen werden 2 Roma im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen erschossen und nur wenig später brennt das Asylheim in Kollwitz. Erst 2012 kommen neue Erkenntnisse ans Licht, die Klarheit schaffen können.



"Sie sagt es waren Einzelne. Arno hat schon Anzeige bei der Polizei erstattet. Sie will nicht, dass wir glauben, dass alle hier -" Marius brachte seine Tochter mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. Hier herrschte ein Krieg, der nicht seiner war. Er wollte nur weg, irgendwohin, wo er eine Arbeit finden und die Familie ernähren konnte. Stattdessen wartete er nun schon über ein Jahr auf die nötigen Papiere. Er zeigte auf das Kreuz. "Kann sie es an einem sicheren Ort für mich aufbewahren?" Adriana übersetzte, die Frau deutete auf den Altarraum und sagte etwas. "Hier drin wird es niemand wagen , es anzurühren." Marius nickte. "Ich fahre nach Rumänien, um die Papiere für die Überführung zu besorgen." Er sah, wie Adriana zusammenfuhr. Sie wusste, was das hieß. Er würde unterwegs sein. Und sie musste für die beiden Kleinen sorgen, Vater und Mutter zugleich sein. Mit vierzehn Jahren. Sie würde es schaffen.
Das meine ich

"In Europa fallen die Grenzen." "Europa wächst zusammen." Sätze wie diese sprechen von Grenzen - von Landesgrenzen, Grenzen im Denken, Grenzen zwischen den Kulturen Europas. Und auch die Literatur kennt den Begriff der Grenze und der Grenzüberschreitung in mehrerer Hinsicht. Für die Strukturalisten ist die Grenzüberschreitung ein wichtiges Element des Erzählens, denn hier erst entwickelt sich Handlung. Der Held überschreitet eine Grenze, er betritt einen anderen Raum und was er dort findet entscheidet über den weiteren Verlauf der Erzählung. Eine andere Verwendung des Grenzbegriffs findet sich auf der kulturellen Ebene. Die Grenze manifestiert sich hier in der Unterschiedlichkeit der Kulturen - sowohl visuell als auch gedanklich. Und nicht zu vergessen ist die offensichtlichste Verwendungsmöglichkeit als "Grenzliteratur", Literatur, deren Handlung an Grenzen abläuft.

So vielfältig in der Literatur der Begriff der Grenze verwendet wird, so vielfältig findet er sich auch in Merle Krögers Roman "Grenzfall" wieder. So ist die Ermordung der beiden Männer ein "Grenzfall" in dem Sinne, dass er im deutsch-polnischen Grenzgebiet stattfindet. Daneben aber kann der Titel auch als ironisches Wortspiel gelesen werden: 1992 ist der Fall der innerdeutschen Grenze nur wenige Jahre her, aber in den Köpfen der Menschen aus Ost und West noch nicht angekommen. Dieselbe Problematik zeigt sich bei der Öffnung der innereuropäischen Grenzen nach dem Schengener Abkommen. So wie der Vorpommer Jahn den westdeutschen Jäger Walther nicht versteht, so verstehen auch 2012 viele Deutsche noch immer ihnen fremde Kulturen, mit denen sie konfrontiert werden, nicht. So schwelt der Konflikt auf vielen Ebenen und die deutsch-polnische Grenze wird zum Symbol der Trennung, auch wenn sie offen und durchlässig ist. Sie wird im Verlauf der Erzählung mehrfach von verschiedenen Figuren überschritten und doch bleibt am Ende der Erfolg dieser Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten fraglich und fragil. 

Merle Kröger thematisiert Themen, über die nicht nur in Vorpommern gesprochen werden sollte, oder besser: gesprochen werden muss. Dass die Fremdenfeindlichkeit hier existiert, kann nicht bestritten werden. Im Buch finden sich neben einem Nazi-Mob auch ein Parteivertreter der NPD, der seine ideologischen Ergüsse ganz ungestraft vor Schulkindern vorträgt, weil der Lehrer "dass alles doch nicht so schlimm findet, ist doch nur die Wahrheit." Jedoch bleibt der Roman eine Beschreibung der Zustände und gibt nur wenig Erklärung dafür, warum nun genau im ländlichen Raum in Vorpommern die Rate der Rechtswähler bis zu 30 % beträgt. Auf der anderen Seite des Konflikts stehen die eingewanderten Familien aus Rumänien, die im Kollwitzer Heim auf ihre Papiere warten. Nur wenige Einwohner nähern sich ihnen ab, von den meisten werden sie abgelehnt oder sogar bedroht. Merle Kröger zeigt ihren Lesern in "Grenzfall" auch diese andere Seite und gibt Einblick in die Kultur und die Lebensauffassung der Roma und Sinti. Dabei umschifft sie geschickt eine romantisierte Darstellung, wie sie so häufig existiert.

Die nicht mehr ganz junge Mattie Junghans ist die Verbindung zwischen allem. Was genau Mattie eigentlich macht, ist nicht ganz klar. Früher ein Programmkino, dann ein Shaolin-Kloster im Norden Deutschlands und jetzt Öffentlichkeitsarbeit für eine Berliner Anwaltsfirma - Matties Lebensentwürfe verändern sich immer mal wieder. Sie macht sich gut neben den Berliner Anwälten, die mit der Mate in der Hand die Welt zu einem besseren Ort machen. Und trotzdem  - so richtig passt Mattie dann doch nicht ins hippe und alternative Berlin. Grenzen gibt es eben überall.

Alles in Allem

"Grenzfall" ist ein spannender Kriminalroman, der durchgehend überzeugend kann, obwohl schnell klar ist, wer hier gemordet hat. Merle Kröger zeigt dem Leser Grenzen jeglicher Coleur - im Kopf, im Herzen, im Verstand und geographische. Ein politscher Krimi aus Mecklenburg-Vorpommern, der einem wieder ins Gedächtnis ruft, dass hier nicht alles nur schön und idyllisch ist.

Bechdel-Test

Volle [3/3] Punkten.

Merle Kröger
"Grenzfall"
Argument-Verlag, 2013
347 Seiten


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