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Gelesen: Elementarteilchen

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19. September 2013 von

via Rowohlt
Michel Houellebecq gehört zu Frankreichs größten Schriftstellern der Gegenwart und wie bei vielen seiner Kollegen auch kann man davon ausgehen, dass seine Bücher viel besprochen werden, aber weniger gelesen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass auf der Rückseite der Ausgabe in schwarzen fetten Buchstaben der Aufruf "Hören Sie auf, darüber zu reden. Lesen sie es!" steht. Elementarteilchen ist skandalöser Roman, voller Sex und menschlicher Abgründe, aber eben auch eine präzise Analyse der gesellschaftlichen Situation. Houellebecq liefert eine utopische Lösung des Problems und zeigt gleichzeitig ihre Tragik.

Darum geht es

In einem kleinen Ort in Frankreich begegnen sich zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Bruno, der sein Leben lang den Frauen nachjagt, ein Sexsüchtiger, psychisch instabil und unsicher. Und Michel, der Wissenschaftler, der in seinem Leben die Liebe nicht kennenlernen wird und der nach und nach alle Bindungen an andere menschliche Wesen verliert. Ihnen gemeinsam ist die Mutter, die sich nicht sehr um ihre Söhne kümmerte. Die Geschichten dieser ungleichen Männer dienen als Projektionsfläche für ein Nachdenken über die Gesellschaft der 2 Hälfte des 20. Jahrhunderts, über sexuelle Freiheiten, über Gewalt und Verrohung, und gescheiterte Menschen.

Die meisten Individuen, die Bruno im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte, waren fast ausschließlich von der Suche nach Sinnenfreuden beseelt- vorausgesetzt natürlich, dass man in den Begriff der Sinnenfreuden die narzisstischen Befriedigungen einbezieht, die sehr stark mit der Wertschätzung oder Bewunderung der anderen verbunden sind. Und so entstanden unterschiedliche Strategien, die man als Menschenleben bezeichnetet.
Sein Halbbruder stellte jedoch eine Ausnahme von dieser Regel dar; allein der Begriff der Sinnenfreuden schien sich schwer mit ihm in Verbindungen setzen zu lassen; aber war Michel überhaupt von irgend etwas beseelt? Eine geradlinige, gleichförmige Bewegung ist von unendlicher Dauer, wenn sie weder der Reibung noch einer von außen auf sie einwirkenden Kraft ausgesetzt ist. Das rationale, organisierte, soziologisch gesehen in der oberen Mittelschicht angesiedelte Leben seines Halbbruders schien bisher keiner Reibung ausgesetzt worden zu sein.

Das meine ich

Der Aufruf auf der Rückseite ist wahrscheinlich berechtigt, ich kenne kaum jemanden, der das Buch tatsächlich gelesen hat. Viele kennen aber den Titel oder haben die deutsche Verfilmung mit Christian Ulmen und Moritz Bleibtreu gesehen. Diese hat allerdings bei genauerer Betrachtung nicht wirklich viel mit dem Roman zu tun, in dem die Sachlage noch einmal wesentlich tragischer ist. Geschrieben ist Elementarteilchen als ein Nachruf aus der Vergangenheit auf den Wissenschaftler Michel Djerzinski, der der Welt einen großen Dienst erwiesen hat. Houellebecq kontrastiert drastisch zwischen den Lebensgeschichten der zwei Brüder: Michels Umgebung ist klinisch rein, sie lässt keine Unordnung und auch kein Chaos zu. Sein Sozialleben ist geordnet, übersichtlich und von einer inneren Distanz geprägt, die schnell an eine Form des Autismus denken lässt. Brunos Welt dagegen ist von Frauen und Sex geprägt. Immer auf der Suche nach der nächsten Nummer driftet er durch die Welt, verliert dabei seine eigene Familie und findet zumindest für eine Weile die Liebe. Es scheint, als ob diese Passagen des Buches nur aus nackten Körpern und hedonistischem Lebensgefühl bestehen. Über allem steht wie es scheint die Erzählinstanz, die als Kommentator und Kritiker der Geschehens fungiert und immer wieder nach Erklärungen für das Handeln der Figuren sucht. Mal hat sie selbst eine Stimme, mal lässt sie die Figuren sprechen, besonders dann, wenn der Naturwissenschaftler Michel und der Geisteswissenschaftler Bruno bei ihren seltenen Treffen diskutiert.

In einer Gesellschaft, in der jugendliches Aussehen und sexuelle Leistungsfähigkeit Faktoren des sozialen Stands werden, in der immer mehr Menschen in esoterischen Lehren nach einem Mysterium suchen, mit dem sie ihr Leben füllen können, entwickelt der Wissenschaftler Djerzinski eine Methode, mit dem zumindest der Körper ewig leben kann. Reproduktion ohne Sex. Die Erschaffung eines neuen Menschen "im Bilde des Menschen" soll zu einer kulturellen Revolution führen und den Verfall der metaphysischen Werte, der sich seit der 68er Revolution stark beschleunigt hat, beenden.

Alles in Allem

Elementarteilchen macht einen ganz schwindelig, denn Michel Houellebecq zieht eine ganze Reihe philosophischer Konzepte zur Konstruktion seiner Hypothesen heran. Dieses Buch kann und muss man mehrfach lesen. Vieles von dem, was der Autor hier vertritt, eröffnet sich dem Leser erst in einem zweiten Leseprozess. "Hören Sie auf, darüber zu reden. Lesen Sie es!"

Bechdel-Test

Die beiden weiblichen Hauptfiguren begegnen sich nicht und auch alle anderen Frauen in Elementarteilchen erscheinen jeweils einzeln. Sie unterhalten sich immerhin mit Männern auch über andere Dinge als Männer, deswegen gibt es [2/3].

Michel Houellebecq
Elementarteilchen
Rowohlt, 2001
384 Seiten


1 comment

  1. Ich wollte jetzt eigentlich nicht unbedingt einen Kommentar zu diesem Buch hinterlassen, sondern eher generell zu deinem Blog :)
    Das Buch habe ich nicht gelesen, aber - wenn ich mich richtig erinnere - gibt es doch einen Film dazu :)

    Dein Blog gefällt mir super gut und ich finde das Thema so toll *_*
    Mach auf jeden Fall weiter so :)

    Liebe Grüße,

    http://milkandhoney-lifestyle.blogspot.de/

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